Statt Klönrunde: Monoklönatische Handreichung Nr. 13, März 2020

Selbst bei der Pflege maritimer Tradition kann man in aller Unschuld in Situationen geraten, auf die nur mit satirischen Mitteln reagiert werden kann. So geschehen im Januar dieses Jahres, als vom Stadtgartenverein Vegesack mitgeteilt wurde, man habe Spendengelder in einer Höhe von mehr als € 30 000 für eine Bronzeskulptur einwerben können. Dargestellt werden soll, was bislang unumstritten als Wahrzeichen Vegesacks gilt: Der Vegesacker Junge, gleichermaßen Symbolfigur und Karikatur und außerdem namentlich Pate einer Hafenwirtschaft am Utkiek, Weserblick inklusive. Beauftragt wurde der Künstler Thomas Recker. Am Hafenkopf ist der schon mit einer markanten Figurengruppe vertreten. Vorgesehen ist die Enthüllung des Kunstobjekts, im Rahmen der Feierlichkeiten zum 400. Hafengeburtstag, am 18. Juni 2022.

Der Beirat Vegesack segnete das Projekt in der letzten Januarwoche zunächst einhellig ab. Aus den Reihen einer dort vertretenen politischen Partei setzte es dann allerdings bedenkenswerte Bedenken. „Wir als … sehen das Thema im Zusammenhang mit der Bevorzugung von jungen Männern, was den Vegesacker Jungen in der Realität angeht. Deshalb muss unsere Fraktion als Unterstützerin dieses Antrags gestrichen werden.“ Fragt sich nur, von welcher Realität, bei einer erwiesenermaßen Kunstfigur, die Rede sein könnte? Oder wurde da nur versucht, einem, was Alter und Geschlecht angeht, nicht so einfach zu definierenden Jungen in die ohnehin schon geleerten Taschen zu greifen? Gegen Spendenquittung, versteht sich. Sowas hebt im politischen Leben zuverlässig die Moral.
Ach nein, ganz so einfach liegen die Dinge in diesem Fall nicht. Da wäre, ganz streng genommen, die Sache mit einmal dem biologischen und, diesem nur scheinbar verwandt, dem grammatischen Geschlecht. Der Vegesacker Junge ist, rein grammatisch angeschaut, unzweifelhaft männlich, ohne allerdings irgendeine nennenswerte biologische Entsprechung. Schon gar nicht bei einer Bronzeskulptur. Bronze, sei dazu nur angemerkt, ist eine Legierung aus Kupfer und Zinn. Hart, aber herzlich, wo die Bildhauer sich ihrer annehmen. Eine „Bevorzugung von jungen Männern“, wie unterstellt, das wäre vergleichbar dem Versuch, den Schöpfern von Reiterstandbildern Tierquälerei anzudichten.
Schwerer dürfte ohnehin wiegen, wie sich ein solcher gezielter Sprechblasenwurf auf unseren weiteren Umgang mit maritimer Tradition auswirken könnte. Müssen wir den Text von ‚Junge komm bald wieder‘ nicht umgehend vom Notenblatt fegen. Wobei dieser von Freddy Quinn herbeigezauberte Junge wenigstens noch als leiblicher Nachfahr einer gegrämten Mutter durchgewinkt werden könnte. Keine Skulptur in irgendeinem metallischen Sinn, aber letztlich doch nur aus Papier und Druckerschwärze zusammengeschraubt. Oder ‚Rolling home‘: „Heave away, and with a will, boys (!) / to old England we will steer.“ Schon sieht man, die Taschen gründlich geleert, sämtliche Shanty-Chöre in Auflösung begriffen.
Schlimmer geht’s immer. Vor allem, wenn man sich in gegenseitige Zuschreibungen vertieft. Nein, jetzt bitte nicht „Seemanns Braut ist die See.“ Mit der geht, in dem Lied, sowieso alles unter. Aber ziert nicht den Bug eines jeden Respekt einflößenden Seglers eine Galionsfigur eindeutig weiblicher Provenienz? Unstatthaft entblößt in den meisten Fällen. Eine „Bevorzugung von jungen Frauen, was deren Existenz unterm Klüverbaum in der Realität“ angeht. Sollte man nicht die hölzernen Jungfrauen nach der Logik der eingangs zitierten politischen Partei durch einen, sagen wir mal: Beispiel gebend, geschnitzten Gregor Gysi ersetzen. Ohne Hemd, mit Hose allerdings schon. Als Trumm Holz dürfte er in solcher Verfassung sogar vor dem Beirat Vegesack auftreten. Wortkarg sind Galionsfiguren ja erfreulicherweise.
Wenn Politiker sich der Realität annehmen, schäumt, in jüngster Zeit jedenfalls, die Moral nicht selten wie eine Bugwelle vor ihnen auf. In ihrem Kielwasser treiben dann die Trümmer all der Figuren und Figürchen, die ihnen ohne Ansehen ihrer eigentlichen Beschaffenheit in die Quere gerieten. Gut, dass es da noch Akteure gibt oder wenigstens gab, die sich nicht von irgendeiner wolkigen Befindlichkeit her definieren, sondern nach dem, was ihre Rolle ausmacht. Eine von ihnen wird im MTV Nautilus noch bestens erinnert. Barbara Massing, Schiffsführerin, um mal für ihre Berufsbezeichnung diesen Umweg zu nehmen, mit einem Kapitänspatent, als erste in der Branche tätige Frau an die Tische der Schaffermahlzeit gebeten, legte stets größten Wert darauf, als Kapitän zu gelten und angeredet zu werden. Wenn eine sich auf eine solche Haltung versteht, können sich die angeblich bevorzugten jungen Männer in ihrer Umgebung bloß noch drehen und winden und ihre Taschen ausleeren. Vegesacker Jungen sind einfach die mit einem solchen ihnen eigenen Dreh.
Gerald Sammet