Statt Klönrunde: Monoklönatische Handreichung Nr. 10, April/Mai 2021

Im Fegefeuer der Eigenheiten – Was der Vegesacker Hafengeburtstag mit dem Weggang oder Verbleib der >Schulschiff Deutschland< zu tun haben könnte

Wo es um Geschichtsbewusstsein im Allgemeinen und um die Pflege maritimer Traditionen in jeweils besonderen Fällen geht, sollte gelegentlich nicht nur dem Geschehen auf See, sondern auch den Vorkommnissen an Land Aufmerksamkeit geschenkt werden. Das liegt nicht nur nahe, weil alle auf die See gerichteten Anstrengungen als Ursprungsort den festen Boden unter den Füßen der Beteiligten aufweisen. Was das Verhältnis von Land und Meer angeht, sind viel zu viele Klischees im Spiel, von „Seemannsbraut ist die See“ bis zu „Rolling home“. Seefahrt hat einfach zu wenig mit dem sie betreffenden Liedgut zu tun. Hans Albers und Freddy Quinn, um nur zwei der üblichen Verdächtigen zu nennen, waren ganz bestimmt keine brauchbaren Matrosen. Romantiker schon; nur deswegen verschlug es sie in den Schauspielberuf.

Romantik, auf die Seefahrt bezogen, hat am Beginn der Neuzeit, im 16. und 17. Jahrhundert, ohnehin keine aus heutiger Sicht ergründbare Rolle gespielt. In erster Linie ging es beim Seehandel um Handwerk, beflügelt von einem eher landständigen Kaufmannsgeist und, was den Betrieb von Schiffen und den mit ihnen verbundenen Warenaustausch angeht, tatkräftiger, oft genug auch waghalsiger Intuition. Im Nachhinein verklärte, angeblich hochherzige Räubergestalten wie Klaus Störtebeker sind aller Wahrscheinlichkeit nach etwas vollständig anderes gewesen als das, was Fabelerzähler und fromme Lügner bis heute aus ihnen zu machen versuchen. Comicfiguren, wie der als Parodie nicht auszurottende Pirat mit Holzbein, Augenklappe und einem Papagei auf seiner Schulter. Die historisch durchaus belegten Piraten sind in erster Linie Seeleute und auf ihre sehr spezielle Weise gewiefte Geschäftsleute gewesen. Von einer ihnen eigenen Unbekümmertheit und Rohheit geleitet, was sich in dem auf sie gemünzten Begriff Freibeuter bis heute spiegelt.

Aber selbst von solchen Gedanken kaum beflügelt waren wohl die noch von hanseatischem Kaufmannsgeist durchdrungenen Initiatoren eines Hafenneubaus für Bremen in den Jahren vor 1618. Noch weniger geläufig war ihnen wahrscheinlich, was ihr Vorhaben für den Fortbestand von Bremen als städtischem Raum von künftig weitaus größerem Zuschnitt einmal auslösen würde. Fürs erste genügte es ihnen, an geeigneter Stelle den Zugang ihrer Schiffe von der Weser in die Nordsee zu sichern. Dafür genügte ein als Liegeplatz für Seeschiffe bereits genutzter Ort auf von Bremen als Einflusssphäre beanspruchtem Territorium (nicht der Stadt zugehörig), bekannt als die Oumunder Depe, eine Einbuchtung an der Mündung des von Schönebeck kommenden Flüsschens Aue. Zwei Vorzüge zeichneten diesen Standort aus: die Zuführung größerer Wassermengen durch die Nebenflüsse Lesum (Leessem), Aue und flussaufwärts die Ochtum. Zum zweiten war an diesem Ort zwar kein Dorf, aber wenigstens eine 1453 erstmals urkundlich erwähnte Örtlichkeit um ein zu der Zeit entstandenes Gasthaus vorhanden: Thom Fegesacke, Bestandteil einer, nach heutigen Lesarten, für damalige Seeleute durchaus wichtigen Infrastruktur.

Als Bauunternehmer und Finanzier des Projekts gelangte das Bremer Haus Seefahrt ins Spiel. Eigentlich eine mildtätige, ursprünglich als Arme Seefahrt 1545 ins Leben gerufene Stiftung, gebildet aus kaufmännischen und seemännischen Mitgliedern. Insofern, abgesehen von aller Mildtätigkeit, der man sich verschrieb, eine durchaus auch dem Eigennutz ihrer Teilhaber verschriebene Handelsorganisation. Aus deren Hilfskasse wurden die für den Bau des Vegesacker Hafens benötigten Gelder entnommen, unter der Maßgabe, die vorgeschossenen Beträge als Betreiber des Hafens und später durch Verpachtung der dortigen Einrichtungen wieder ihrem ursprünglichen Zweck zuzuführen.

Mit der Bauausführung wurden niederländische Wasserbauer betraut, angeführt von Johan van Valckenburgh, einem Festungsbaumeister, der sich bereits bei der Anlage der Bremer Neustadt und der Sicherung von Alt- und Neustadt durch zeitgemäße Befestigungsanlagen einen Namen gemacht hatte. Im Gegensatz zur Eröffnung ist der Baubeginn der Anlagen halbwegs präzise dokumentiert. Am 14. Juli 1618 begannen, nach einer ausgiebigen Inspektion, die Planungsarbeiten und im Frühjahr des darauffolgenden Jahres die Baumaßnahmen an der Oumunder Depe, auf dafür bestens geeignetem lehmigen, sogar von Tonschichten durchzogenem Grund. Lediglich das Flüsschen Aue sorgte für einige Probleme, weil es Schlickeintrag aus dem Hinterland mit sich führte. Am Ende wurde seine Mündung östlich des entstehenden Hafenbeckens an das rechte Ufer der Lesum verlegt.

So verfügte Bremen, wegen der Versandung der Weser zwischenzeitlich vom Seehandel abgeschnitten, zwar wieder über einen allerdings nicht sonderlich stadtnahen Hafen und über Einrichtungen für den Warenumschlag. Als der Stadt zugehörig wurde das Terrain freilich nicht empfunden. Zu den Grundtugenden Bremer Kaufleute gehörte zu der Zeit wie letztlich bis heute, unter sich bleiben zu wollen. Die aus solchen Mentalitäten hervorgegangene Legende von Bremen als einer Stadt der kurzen Wege hat, allen geografischen und topografischen Gegebenheiten trotzend, weiter Bestand. Dabei hätte schon seinerzeit, im Jahrhundert des Dreißigjährigen Krieges, ein einziger Blick auf die navigatorischen Umstände der Bremer Hafenplanungen genügt. Mit Schiffen die Welt umrunden und die von ihnen herbeigeführten Ladungen auf kleinstem Raum in engster Nachbarschaft hinter den eigenen Haustüren stapeln, darauf lief es am Ende hinaus.

Den sich im Umfeld des neu errichteten Hafens ansiedelnden Handwerkern, Gewerbetreibenden und mit der Seefahrt verbundenen Abenteurern lag ohnehin vor allem daran, einerseits Halt zu finden, und andererseits in Bewegung zu bleiben. Seeleute der damaligen Zeit entpuppten sich, kaum an Land gekommen, als ausgesprochene Wirtshausnaturen. Die Hafenspelunke, heute wird sie ebenfalls romantisch verklärt, zeichnete sich vor allem durch zweierlei aus: Gesetzlosigkeit und Korpsgeist der einander nach einem eigenen Regelwerk verbundenen Gesetzlosen. So weit von dem, was die Bremer Kaufleute mit ihrer Fixierung auf ihren Mikrokosmos der kurzen Wege beschritten, waren ihre auf andere Eigenheiten fixierten Fahrensleute gar nicht entfernt. Vegesack jedenfalls gedieh prächtig in den auf den Hafenbau folgenden Jahren.

Unter sich zu bleiben sollte sich nachfolgend dann doch als schwierig erweisen. 1653 fiel das Örtchen an Schweden, das sich des Erzbistums Bremen bemächtigte, bei Erhalt der Reichsunmittelbarkeit der Stadt Bremen. 1666 erreichte die Stadt Bremen, nach kriegerischen Auseinandersetzungen mit Schweden, einen Kompromiss, bei dem sie die von ihr in Anspruch genommene Reichsunmittelbarkeit einerseits aufgab, andererseits aber weiter aufrechterhielt. Eine Eingliederung in das Herzogtum Bremen, Nachfolger des vormaligen, mit der Reformation obsolet gewordenen Erzbistums, wurde seitens der Stadt Bremen ausdrücklich abgelehnt. 1741 gelangten im Zweiten Stader Vergleich die zwischen der Stadt Bremen und den ihr lose verbundenen Weseranrainergemeinden Vegesack und Blumenthal gelegenen Siedlungen unter bremische, so die ausdrückliche Definition, Landeshoheit. Was die Ausübung der Gerichtsbarkeit anging, hatten diese so genannten Gohen schon unter bremischen Einfluss gestanden.

Die Weser, die Lesum, die Erde, der Mond

Die vertraglich festgehaltene Trennung von Stadt und Landkreis Bremen hat, was die aus ihr hervorgegangenen Mentalitäten angeht, noch immer Bestand. Vegesack gelangte durch den Zweiten Stader Vergleich, in dem es um von Kurhannover erhobene Gebietsansprüche im Bereich seiner Umgebung ging, in eine wenig komfortable Position. Von Hafen und Havenhaus abgesehen, fiel alles von Bremen erschlossene Terrain unter die Oberhoheit der Welfen. Im Reichsdeputationshauptschluss 1803, dem letzten maßgeblichen Gesetzeswerk des Heiligen Römischen Reiches, fiel dann die gesamte Ortschaft Vegesack wieder unter bremische Verwaltungshoheit. 1852 wurden ihr die Stadtrechte verliehen. 1875 erfolgte der Anschluss der Exklave an den Deutschen Zollverein, von dem sich Bremen noch 13 Jahre fernhalten sollte. Mit eigenem Wappen und eigener Flagge ausgestattet, stellte die mittlerweile von der aufblühenden Werftindustrie und Fischereiwirtschaft geprägte Gemeinde demonstrativ ihre Eigenheiten zur Schau. Dass das Kapital der ansässig gewordenen Industrieunternehmen hauptsächlich aus den Kassen bremischer Kaufleute stammte, spiegelte sich zwar auf vielfältige Weise in den Namen der das Erscheinungsbild des Städtchens prägenden Unternehmen, sorgte ansonsten aber nicht für einen dem Ursprungsort der eigenen wirtschaftlichen Stärke sonderlich verbundenen Patriotismus.

Die Sache hätte auch anders ausgehen können, sogar müssen. So sah das in den Jahren vor 1939, vor dem Zusammenschluss der am Geestrand von Weser und Lesum liegenden Gemeinden und deren Anbindung an die Stadt Bremen, der mit einem Gutachten zur Regelung dieser Angelegenheit betraute Göttinger Geograf und Landesplaner Kurt Brüning. Die Bevölkerung der für einen Anschluss an die Stadt Bremen vorgesehenen teil bremischen, teils preußischen Gebiete sei ungeachtet enger wirtschaftlicher Bindungen an die Hansestadt dabei, ein Eigenleben zu entwickeln. Die Zusammenführung zu einem später als Bremen-Nord umgangssprachlich in Gebrauch genommenen territorialen Gebilde wurde gleichwohl gegen Brünings Bedenken und gegen den Widerstand des damaligen preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring vollzogen. Vegesacks Stadtrechte erloschen am 1. November 1939, 77 Jahre nach ihrer Verleihung. Was das von Brüning konstatierte Eigenleben der nunmehr nur noch als Vororte geltenden Siedlungen Blumenthal, Farge, Grohn, Lesum, Marßel und Vegesack angeht, liegen die Dinge erkennbar noch immer nicht zur Gänze in einem bremischen Lot. Zumal, seit nach dem Verschwinden der klassischen Industrien die Anziehungskraft Bremens nur noch verwaltungstechnisch zur Geltung gebracht wird.

Wie bei jeder beginnenden Entfremdung handelt es sich auch bei dieser um eine, die auf Gegenseitigkeit fußt. In der Sache nicht leicht zu erklären, hilft vielleicht eine Gleichsetzung der Beziehung von Bremen und Bremen-Nord mit dem Verhältnis von Erde und Mond. Wobei, was allerdings nur Astronomen geläufig sein dürfte, nicht der kleinere Himmelskörper den großen umkreist. Tatsächlich bilden Erde und Mond ein um einen gemeinsamen Schwerpunkt zirkulierendes System. Dieser Schwerpunkt, Baryzentrum genannt, befindet sich, wegen der unterschiedlichen Massen, zwar im Erdinneren, ist aber nicht identisch mit dem Erdmittelpunkt und befindet sich außerdem, wegen der gemeinschaftlich verübten Rotation, in andauernder Bewegung. Auf das Verhältnis von Bremen und Bremen-Nord übertragen: Bindung als ein Wechselspiel, ein durchaus stimmiges Bild. Welchen Fixstern das System Bremen-Nord/Bremen umkreist, das soll dahingestellt bleiben. Sonst käme am Ende noch Hamburg, als Zentrum maritimer Wirtschaft im Norden, ins Spiel.

Wie an einem Schnürchen

Besser daher, man wechselt an der Stelle auf das Feld der Geografie. Die von Bremen, das sich als Stadtgemeinde ausgibt, geprägte räumliche Beschaffenheit dieses Gemeinwesens lässt sich mit dem Begriff einer gewachsenen Bandstadt zutreffend beschreiben. Bei einer Bandstadt handelte es sich, so die lexikalische Definition, um „eine Stadtanlage längs eines Transportweges (Schiene, Straße, Wasserweg) mit großer Länge, aber geringer Breite.“ Bandstädte sind im Zuge der Industrialisierung entstandene Siedlungsräume, deren Entstehung sich topografischen Gegebenheiten und wirtschaftlichen Verflechtungen verdankt. Das markanteste Beispiel für eine gewachsene Bandstadt in Deutschland ist die 1929 aus den Gemeinden Barmen, Elberfeld, Cronenberg, Ronsdorf und Vohwinkel hervorgegangene Textilstadt Wuppertal. Mit einer Längenausdehnung von 20,5 Kilometern bei kaum mehr als 2 000 Metern in der Breite gilt sie unter Geografen als das Exempel einer im 19. Jahrhundert gewachsenen Bandstadt.

Wie Wuppertal wurde auch die heutige Samtgemeinde Bremen am Reißbrett zusammengefügt. Mit, einerseits, dem markanten Unterschied, dass nicht eigens ein neuer Name am Ende dieser Raumordnung stand, und dass, andererseits, die Ausdehnung der Agglomeration in der Länge 55 Kilometer, in der Breite an der schmalsten Stelle, was die besiedelte Fläche angeht, am Bahnhof Burg kaum mehr als 800 Meter beträgt. Der geografische Mittelpunkt dieses Gebildes befindet sich nicht auf dem Terrain, das sich als die Innenstadt ausgibt, sondern in Grambke, auf, vom Selbstbild der auf ihre Eigenheiten bedachten eigentlichen Bremer her besehen, außerbremischem Gebiet.

Dass Bremen nicht, wie die Gemeinden im Tal der Wupper, als eine Neugründung Wesertal endete, hat natürlich mit der besonderen Seefahrtsgeschichte der Kommune zu tun. Einer Geschichte, die bis tief in die Raumordnung hineinwirkte. An ihren Landgemeinden zwischen der ursprünglichen Kernstadt und dem Geestrücken an der Lesum und darüber hinaus lag den hanseatischen Kaufleuten nicht allzu viel. Das änderte sich erst, als sich mit der Weser-Korrektion und der konsequenten Eindeichung der ursprünglichen Überflutungsgebiete die Stadt nicht unbedingt in der Fläche, wohl aber in der Länge ausdehnte. Bestehende Mentalitäten freilich blieben unangetastet. Allein deren bis heute gültige Fortschreibung in Ortsnamen wie Utbremen, Östliche Vorstadt, Bahnhofsvorstadt oder Merksätzen wie „In Walle wohnen doch alle“ zeugen von wenig Gespür für neu geschaffene Realitäten. Ein Kranz von irgendwie nicht zugehörigen Anhängseln eines Städtchens, in dem nicht ohne Grund Wert daraufgelegt wird, gegebenenfalls als kleinstes und irgendwie Mitleid erregendes Bundesland in Erscheinung zu treten. Kurze Wege bei gleichzeitig langer Leine, wenn es um nach außen in Stellung gebrachte Ansprüche geht.

Was die Beschaffenheit Bremens als bis in ihren Trabanten Bremen-Nord hinein verlängerte Bandstadt angeht: Natürlich hat beim Zustandekommen dieser Konstellation der Transportweg Weser die den Ausschlag gebende Rolle gespielt. Die Siedlungs- und Wirtschaftstätigkeit folgte dem immer weiter versandenden Fluss, anfangs passiv, dann, ab dem 17. Jahrhundert, orchestriert von massiven Eingriffen in die vorgefundenen Landschafts- und Naturräume. Wobei größter Wert daraufgelegt wurde, den mit der Weser-Korrektion von1895 möglich gewordenen Hafenbetrieb und die mit ihm verbundene Industrialisierung von der Kernstadt fernzuhalten, wo immer sich das einrichten ließ. So gelangte der spätere Himmelskörper Bremen-Nord zu seinen Werftbetrieben mitsamt verarbeitenden Gewerken wie der ebenfalls längst untergegangenen Bremer Wollkämmerei. Selbst in heutiger Terminologie als Dienstleistung deklarierten Aktivitäten wie die seinerzeit im hannoverschen Blumenthal ansässige Kahnschifferei spiegeln diese Entwicklung. Genug Raum, um aufs Terrain des von den Geografen Kurt Brüning 1939 konstatierten Eigenlebens zu finden. Bremen war, im Nachklang, immer präsent, aber es lag weit genug von den Orten des Geschehens entfernt.

Zwei neben dem Transportweg Weser für das Werden der Bandstadt Bremen bedeutende Wege bedürfen noch einer Erwähnung. Der eine, die bis zur Burger Brücke und über diese hinausführende Straße, hat als Handelsroute eine eher nachrangige Rolle gespielt. Eine Vorläuferin der später ins Leben gerufenen Heerstraßen, eher nominell als tatsächlich von militärischer Bedeutung. Die zweite, weitaus wichtigere, wenngleich in ihrer Tragweite bis heute nicht zur Genüge verstandene Innovation brachte der Eisenbahnbau. Ursprünglich vor allem gedacht für die Abwicklung von Güterverkehr, zugeschnitten auf den Hafenumschlag. 1862 entstand als Verbindung zur Wesermündung die von Bremen ins hannoversche Geestemünde führende Bahn, mit einem im selben Jahr in Betrieb genommenen Abzweig ins damals ebenfalls hannoversche Grohn. Der heutige Bahnhof Vegesack war zur Zeit seiner Entstehung exterritorial.

Auf die Stadtgemeinde Bremen bezogen, bildete die auf diese Weise geschaffene parallel zur Weser verlaufend Struktur eine in Fachkreisen so genannte Hauptmagistrale. In ihr spiegelt sich die vom Schifffahrtsweg vorgegebene Gliederung des besiedelten, aus der Kernstadt und ihr nachrangigen Randbezirken hervorgegangenen Raums. Von einer 1889 aufgenommenen Verbindung, bis 1961 erhalten gebliebenen und 2007 wiederhergestellten Verbindung nach Bremen-Farge blieb die Grundstruktur dieses Systems, von der 1967 erfolgten Elektrifizierung abgesehen, bis heute unangetastet. Schon an der bis ins 21. Jahrhundert in Gebrauch gebliebenen Zugzielanzeige Bremen zeigte sich, dass es hier weniger um innerstädtischen Verkehr ging als um die gedanklich nicht überwundene Erschließung eines ländlich verstandenen Raums. Bremen und Vegesack als unterm Strich oder wie an einem Schnürchen eine Zweistadt ohne, wofür Verkehrsträger eigentlich sorgen sollten, Zusammenhalt in einer beiden Seiten eigenen Identität.

Suchen und Finden

So gelangt man, am Ende solcher Betrachtungen, zu der eingangs aufgeworfenen Frage, was die spezifische Raumordnung innerhalb der eher als Samtgemeinde denn als Großstadt strukturierten Bandstadt Bremen mit dem Verbleib oder Weggang der >Schulschiff Deutschland< zu tun haben könnte. An der Stelle lohnt es sich, einen Blick auf die Verhaltens- und Bewegungsprinzipien von Städtetouristen zu werfen. Gerade deren Ausbleiben am Liegeplatz des Traditionsschiffs wird von den Befürwortern seiner Verholung nach Bremerhaven geltend gemacht. Drei Begriffe sollen dafür ins Spiel gebrachte werden: Auffindbarkeit, Erreichbarkeit und Identifizierbarkeit. Hält man sich an die zugegeben ein wenig abgedroschene Volksweisheit „Wer suchet, der findet“, lässt sich nur konstatieren: Das mag andernorts tatsächlich möglich sein. Im auf Selbstvergessenheit konditionierten Bremen eher nicht.

Es lohnt sich, wo sich diese Frage stellt, einen Blick in die handelsüblichen Reiseführer und auf die in Umlauf befindlichen Stadtpläne zu werfen. Sie zeichnen sich, allesamt in seltener Einmütigkeit, dadurch aus, dass sie dem Geschehen und den Angeboten jenseits der Kernstadt so gut wie keiner Aufmerksamkeit schenken. Wobei diese Kernstadt, in Bremen von Politik und Medien gerne als die Innenstadt ausgegeben, rein geografisch besehen kein Inneres verkörpert, sondern einen, was seine Zentralität angeht, mangelhaft erschlossenen Außenposten in einer auf Karten mühelos identifizierbaren Randlage. Für einen Beweis des Gegenteils muss man die Außenbezirke regelrecht davonschreiben, was auch, vor allem in den Medien, tatsächlich geschieht. Jüngstes Beispiel: Das vom de facto Monopolblatt >Weser-Kurier< soeben vorgetragene Selbstverständnis: „Gegliedert ist die Berichterstattung in die Stadtbezirke Mitte, Bremer Osten, Links der Weser und Bremer Westen.“ Kein Gedanke, dass man eigentlich Strukturen in ihrer Gesamtheit abbilden müsste. Dafür sind die kurzen Wege augenscheinlich zu lang.

Was die Auffindbarkeit und Erreichbarkeit von Vegesack und Bremen-Nord angeht, stehen Besucher und Städtetouristen vor allem vor einem Problem: Es existieren jenseits aller in anderen Städten schon vor Jahrzehnten entwickelten und durchgesetzten Standards keinerlei das Terrain erschließende Informationsangebote. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die BSAG mit ihrem kaum ein Drittel des Gemeindegebiets erschließenden Straßenbahnnetz und ihrem schwer durchschaubaren System von Überlandbussen stets als einziger und bewährter Anbieter von Nahverkehrsleistungen ausgibt. Der 2008 als S-Bahn-Netz ausgeschriebene Personenzugbetrieb der Nordwestbahn setzt Ortskenntnisse und solche der betrieblichen Abläufe voraus: Kein jederzeit erkennbarer Linienbetrieb, keine, falls überhaupt, schlüssige Verknüpfung mit den Angeboten der anderen Verkehrsträger, dazu, rein technisch besehen, die Priorisierung des Güterverkehrs auf den nicht ertüchtigten Eisenbahnstrecken. Erschwerend für Uneingeweihte kommt hinzu, dass weder nach gängigen Standards vereinheitlichte, mit einem Blick erfassbare Netzpläne vorliegen. Auch die Stadtpläne mögen Autofahrern eine gewisse Orientierung verschaffen. Mehr nicht.

Wege und Abwege

Dass die Angelegenheit >Schulschiff Deutschland< mittlerweile ausgestanden sein dürfte, mag viele dazu verleiten, wieder zu eingespielten, jede Vielfalt ausschließenden Mentalitäten zurückzufinden. Bremen als Musterkommune des Singulären erlaubt sich, die meisten seiner Einrichtungen als einmalig vorhanden zu charakterisieren: der Bahnhof, das Viertel, das Standesamt, das Amtsgericht, zuletzt das Impfzentrum. Vielfalt, auf die man sich so viel zu gute hält, geht eigentlich anders. Sollte bei Besuchern der Wunsch entstehen, sich das Overbeck-Museum anzuschauen, über die maritime Meile zu streifen oder im Schloss Schönebeck Station zu machen, setzt das schon fast ein auf Bremen bezogenes Geschichts- und Geografiestudium voraus. Selbst zum attraktiven Torfhafen samt dem dortigen Markt gelangt nur, wer über Spürsinn und rudimentäre Ortskenntnisse verfügt.

Auch die Anbieter von Kultur- und Veranstaltungsleistungen unterliegen dieser in der Abschottung mündenden Denkweise. Daher an ihre Adresse, und speziell derer in Bremen-Nord, diese Ermunterung: Wahrt eure Eigenheiten, ohne den Hang zu erliegen, im Nichts bremischer Gefühlswelten zu enden! Entwickelt zu Euren Angeboten sich an die andernorts üblichen Standards orientierte Informationssysteme. Gebt, vereinfacht gesagt, Hinweise darauf, wie der Ort, um den es geht, erreicht werden kann. Und zwar nach mehr als dem Prinzip „Bahnhof verstehen.“ Wenn die Sache mit der >Schulschiff Deutschland< für eine Lektion taugen sollte, dann die: Schläfrigkeit und Warten auf die Initiativen anderer, vor allem der zuständigen Verwaltungseinheiten, bringt keinen Zuspruch. Eigeninitiative, auch gegen eingeschliffenen Trott, schafft Zusammenhalt und Verbindungen. Der demnächst verwaiste Liegeplatz am Lesumufer hat daher alles Zeug, zu einem Weckruf zu werden.

Gerald Sammet