Statt Klönrunde: Monoklönatische Handreichung Nr. 7

Walverwandtschaften. Ein Schwedenhappen

Das Aufeinandertreffen von Kapitän Ahabs >Pequod< und dem Bremer Walfänger >Jungfrau< in Herman Melvilles Roman Moby Dick ist in der von ihm geschilderten Form wohl nur Teil einer ausgeklügelten literarischen Fiktion. Ganz anders hingegen der Kern der von ihm erzählten Geschichte. Ein Vorfall wie der zwischen Melvilles weißem Wal und einem dem von Ahab vergleichbaren Schiff ist durchaus belegt. Kein Fabeltier vom Schlag eines Moby Dick zeigte sich allerdings in diesem Spiel, so wenig wie ein in seiner Besessenheit unüberbietbarer Ahab, sondern lediglich, am Morgen des 20. November 1820, in Äquatornähe auf dem Pazifik, ein ebenso zornig wie berechnend agierender Pottwal, der den aus Nantucket stammenden Walfänger >Essex< bis zum Totalverlust des Schiffs attackierte.

Die Besatzung der >Essex< hatte dem Tier zuvor mit Harpunen zugesetzt, ohne zu ahnen, welche Widerstandskräfte sie damit weckte. Der Wal rammte das mit 28 Metern Länge und einer Breite von acht Metern vergleichsweise winzige Schiff, bis es vor den Augen der in den Walfängerbooten verbliebenen Besatzungsmitglieder versank. Ganze acht der in Nantucket an Bord gegangenen Männer, unter ihnen der Kapitän der >Essex<, George Pollard, überlebten. Zunächst war es ihnen gelungen, sich mit drei Booten auf die zur Pitcairn-Gruppe zählende Pazifikinsel Henderson zu retten. Weil es dort an Nahrungsmitteln und Süßwasser fehlte, nahmen sie nach kurzem Aufenthalt im Konvoi Kurs auf die vor der Küste Chiles gelegene Osterinsel, in der Hoffnung, unterwegs auf andere Schiffe zu stoßen.

Stattdessen verloren die Boote nach kurzer Zeit den Kontakt zueinander. Eines von ihnen verschwand spurlos. Vom zweiten, mit dem Ersten Maat Owen Chase, dem Fangboot-Steuermann Benjamin Lawrence und dem Kabinenjungen Thomas Nickerson an Bord, überlebten nur diese drei. Ihr Weiterleben verdankten sie dem Verzehr des Fleischs der Hungertoten im Boot. Owen Chase und Thomas Nickerson haben die Umstände dieser Höllenfahrt nach ihrer Rettung durch die Brigg >Indian< am 18. Februar 1821 in Erinnerungsschriften beschrieben. Ihrer Überlieferung verdankte Herman Melville die Zugänge zu seinem Stoff. Melville begegnete Im Jahr 1841 auf dem Walfangschiff >Acushnet< einem William Chase. Es handelte sich um den Sohn von Owen Chase. Der gerade 16 Jahre alte Schiffsjunge gewährte Melville Einblick in die mittlerweile als Buch verfügbaren Aufzeichnungen seines Vaters.

Das dritte Boot, mit Kapitän Pollard als dem prominentesten Überlebenden, wurde am 23. Februar 1821 von dem Walfänger >Dauphin< vor der chilenischen Küste aufgegriffen. Auf diesem Schiffchen hatte man sich nicht nur vom Fleisch der Hungertoten ernährt. Vielmehr wurde dort im Losverfahren entschieden, welche der Besatzungsmitglieder getötet und verzehrt werden sollten. Drei Männer von der ursprünglichen Besatzung der >Essex< waren auf dem Inselchen Henderson zurückgeblieben und wurden dort am 5. April 1821 vom britischen Handelsschiff >Surrey< übernommen.

Ungeachtet all dieser dramatischen Begleitumstände einer alles andere als wundersamen Rettung: Vorfälle, bei denen es Walen gelang, Schiff zu versenken, stehen nicht wenige in den Listen. Die >Pusie Hall< (1835), die >Two Generals< (1838), die >Pocahontas< (1850), die >Ann Alexander< (1851), und einige mehr auf der Agenda der rätselhafteren Verluste. Der Wal und die Walfänger: Eine Auseinandersetzung, bei der es offenbar von beiden Seiten darum ging, wem die Vorherrschaft auf den Meeren gebührte. Wobei dabei nicht die geringste Rolle gespielt haben dürfte, dass Wale und die Schiffe dieser Zeit von ihrer Größe und Form her besehen einander nicht unähnlich waren. Walverwandtschaften, wenn man so will. Mit, wie die Praktiken beider Seiten zeigten, einem ausgeprägten Hang, Familienstreitigkeiten mit Gewalt auszutragen.

Nicht allzu leichtfertig wäre es, gegen solche Verluste die mit dem Walfang erzielten Gewinne aufzurechnen. Die aus den durch den Handel mit Tranöl, Amber und anderen aus den Körpern der Meeressäuger in Umlauf gebrachten Rohstoffen ohnehin. Die Walfangindustrie, maßgeblich von den USA aus betrieben, war einer der wesentlichen globalen Wirtschaftszweige bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein. Bis heute finden sich, namentlich im Südatlantik, am Rand der Antarktis und an den Küsten des Pazifik die Überbleibsel einst florierender Siedlungen, samt der Greueltaten, die in ihnen verübt wurden. Im antarktischen Raum dienten, weil es dort an brauchbaren Brennstoffen fehlte, für den Betrieb der Trankessel Pinguine als Heizmaterial.

Tatsächlich lohnt es sich, auch anderweitig auf die Spuren der Wale zu schauen. So war dem englischen Walfänger, Naturhistoriker und Kapitän William Scoresby schon im frühen 19. Jahrhundert aufgefallen, dass sich in den von ihm befahrenen Fanggebieten vor Grönland immer wieder unzweifelhaft aus dem pazifischen Raum stammende Fundstücke wie Mahagoni-Treibholz aufspüren ließen. Weil Walfänger zu der Zeit ihre Harpunen mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen markierten, gelangten auch solche Objekte mit den erlegten, aber nicht geborgenen Körpern der Tiere in ihnen eigentlich nicht angestammte Reviere. Gleiches wurde spiegelbildlich im pazifischen Raum registriert, anhand von eindeutig aus der nordatlantischen Arktis stammenden Gegenständen. Weil es Walen nicht möglich ist, die warmen tropischen Gewässer zu durchqueren, zeichnete sich für Scoresby schnell ab, dass eine offene Verbindung zwischen dem Behringmeer und der Grönlandsee existieren musste: Die Geburtsstunde der Nordwestpassage, wenn auch zunächst nur als Indizienbeweis.

Erst in den Jahren von 1903 bis 1906 gelang dem Norweger Roald Amundsen mit einem eigens für diesen Zweck erbauten Schiff, der >Gjøa<, die Durchquerung dieser Passage, auf einer, wie sich allerdings herausstellte, für regulären Schiffsverkehr nicht geeigneten Route. Zuvor war schon 1847 John Franklin mit diesem Vorhaben gescheitert. Schiffe und Mannschaften gingen damals spurlos verloren. Auch bei ihrem Scheitern hat Kannibalismus, wie sich aus später gefundenen Knochenüberresten ableiten ließ, keine geringe Rolle gespielt. Erst in den Jahren 2014 und 2016 wurden die Überreste von Franklins Fahrzeugen >Erebus< und >Terror< entdeckt.

So viel zum, von ihnen letztlich ungewollten, Beitrag der Wale zur Festlegung von Seefahrtsrouten und deren kartografischer Erfassung. Sie verfügen im Übrigen über ein unserem technischen Sonar verwandtes System der Orientierung und Kommunikation. Unter Wasser ausgestrahlte Signale von Unterseebooten stiften allein deswegen einige Verwirrung in ihren Aufenthaltsgebieten. Von Meeresschützern werden solche Praktiken aus dem Grund für die Strandung ganzer Walschulen in küstennahen Gewässern verantwortlich gemacht.

Was Vegesack, als Walfängerstädtchen, angeht, hat der Walfang dort, ungeachtet zahlreicher Erinnerungsstücke und Denkmäler, nie eine, wie in den US-amerikanischen Hochburgen des Gewerbes, nach heutiger Lesart „systemrelevante“ Rolle gespielt. Am ehesten der Exotik der mit dem Walfang verbundenen Bestrebungen wegen. Ein, nach vorliegenden Zeugnissen, eher kollektiv ausgeübtes Gewerbe, bei dem, nie ganz hinreichend, gleichwohl passable Einkünfte in die Taschen aller Beteiligten flossen, vom geringsten Mann bis hinauf zum Kapitän. Raschens Werft, an der Lesum, erlebte zum Ende des 18. Jahrhunderts eine gewisse Blütezeit, als man sich dort auf den Ausbau von Walfangschiffen spezialisierte.

Ein Vorfall verdient freilich gleichwohl Erwähnung. Am 8. Mai 1669 strandete ein „Wallfisch“, so die Lesart dieser Zeit, auf dem Schönebecker Sand. Das Tier, mit einer Länge von 9 Metern mehr als ansehenswert, wurde nahezu im Maßstab 1 : 1 auf einem Bild festgehalten, danach ausgenommen und das Skelett mitsamt seinem Konterfei ins Rathaus gehängt. Sehr zum Verdruss der im Erzbistum, jedoch nicht in der Stadt Bremen den Ton angebenden Schweden. Ihnen wäre dieser Happen von mehr als einigem Wert mehr als gelegen gekommen.

Es sollte nicht sein, weshalb sich die Schweden allenfalls das angeblich größte Walbild aller Zeiten anschauen durften. Nicht ihretwegen, sondern nur, weil es der Zufall so wollte, schaute im April 1670 ein weitaus kleinerer Wal auf der Höhe von Lemwerder vor der Einfahrt in den Vegesacker Hafen vorbei. Auch sein Erscheinen wurde in einem Bild festgehalten. Es gilt als die älteste erhaltene Ansicht des Ensembles von Hafen, Havenhaus und Dünenabbruch. Nichts ist hingegen davon bekannt, ob der Winzling erneut schwedische Begehrlichkeiten weckte. Das Bild von ihm kann man sich, mit Gewinn fürs historische Verständnis, im Heimatmuseum Schloss Schönebeck anschauen.

Gerald Sammet